Sonntag, 24. Februar 2013

Warum Schüler unsinnig büffeln müssen

Breif eines Vaters an seine 10jährige Tochter. Unbedingt lesenswert

Liebe Marie,

erinnerst  Du Dich noch an den Tag, an dem wir das letzte Mal im Kino waren? An  diesen Tierfilm, den Du so gerne sehen wolltest? Wie hieß der bloß noch?  Ich glaube, Tiger, Bären und Vulkane, aber sicher bin ich mir nicht.  Denn unser Ausflug liegt schon ein paar Monate zurück. Wir sind alle  zusammen mit dem Auto in die Stadt gefahren: Mama, Henri, Du und ich. Es  war Sonntag – und wir beide saßen mit Karteikarten auf der Rückbank und  haben gelernt. Wie viel ist 172? Wie viel 56? Wie viel 28? Auf dem Weg  nach Hause dann noch mal: 27 = 128, 182 = 324, 56 = 15625. Und noch mal.  Und zur Sicherheit gleich noch mal.

Wir hätten so viel  Sinnvolleres tun können auf unserem Heimweg! Den Bildern der Bären  nachhängen und Bonbons lutschen zum Beispiel. In dem Zauber verweilen,  den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als laufe man  erwachend durch einen Traum. Aber noch nicht mal an einem Sonntag ist es  mir gelungen, Dich das Kind sein zu lassen, das Du sein solltest mit  zehn Jahren.

Bitte mach mir diesen Mist nicht nach, wenn Du erwachsen bist, Marie!

Du  merkst schon: Der Brief, den ich Dir schreibe, ist eine verzwickte  Angelegenheit. Du wirst ihn genau lesen müssen, damit Du alles  verstehst. Und dass Du verstehst, ist wichtig: Denn es geht um Dein  Leben und um das, was wir Erwachsenen daraus machen.

Ich werde  Dir von Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben. Von  Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die ihre  Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich  wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land, das  Euch alle zu Strebern macht.

Deshalb habe ich meinen Brief auch  nicht auf Deinen Platz gelegt, dort am Küchentisch, an dem wir morgens  Einkaufszettel schreiben und abends Vokabeln lernen: Wie lautet das  englische Wort für Gummistiefel, Stiefvater, Drachenfestival,  Schiffsausguck, Küstenstadt, Karaoke-Gerät, Schatzkarte, Gartenschuppen,  Geschmacksrichtung Hühnchen? Ich schreibe diesen Brief in der Zeitung,  weil es noch 275.000 andere Fünftklässler in Deutschland gibt, die ein  Gymnasium besuchen wie Du. Die gerade wie Du für die letzten Arbeiten  vor den Zeugnissen büffeln. Und die wie Du trotzdem nur mit halbem Ohr  diese rätselhaften Wörter hören:»Turbo-Abi«, »Schulzeitverkürzung«,  »G8«.


Hier geht's weiter

Donnerstag, 21. Februar 2013